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 […] Eine fünfjährige Unsterblichkeit prophezeit Alban auch der Dreigroschenoper. Hier hätte ich ihm damals zugestimmt. Wir haben uns beide gründlich geirrt. [] In allem Ernst aber verspricht er seinem eigenen Werk eine „Geltungsdauer von fünfzig Jahren“. [] Sich hat also Alban unterschätzt. Hat er seinen Meister und Freund, dem er 500 Jahre Unsterblichkeit zugemessen hat, überschätzt? [] Also will ich mich mit der Vermutung vorwagen, dass beide, der Meister und der Schüler, ein gleich langes Leben haben werden. (SM, Berg, S.33f)

Morgenstern, der sich hier im Kapitel seiner Berg-Erinnerungen Arnold Schoenberg : Alban Berg = 500 : 50?  über die vermutete Lebensdauer von Kompositionen äußert, hat sich wohl niemals so explizit über Erwartungen der Geltungsdauer seiner eigenen Werke ausgelassen. Er dürfte recht zuversichtlich gewesen sein, dass die Zeit für seine Werke noch kommen werde. Er hat recht gehabt, doch bleibt es bemerkenswert, dass – nimmt man jedenfalls seine Romantrilogie – die Geltungsdauer seines Werkes im Wesentlichen erst nach über fünfzig Jahren anfängt.

Die Rezeptionsgeschichte von Soma Morgensterns Werk, aber auch die so lange nur so spärlich existierende öffentliche Erinnerung an ihn selber ist also recht bemerkenswert.  Wie Gary Giddins es in seinem Artikel über ihn formuliert (in: Kaddish for the Jews): Soma Morgenstern's elusive career is one of the strangest and most frustrating in modern literature. Die Diskrepanz zwischen Morgensterns Bedeutung und seine weitgehende Unbekanntheit bis in die Neunzigerjahre der 20. Jh. ist seltsam.  Das hat viel mit der unglücklichen Editionsgeschichte seiner Werke bis 1994 zu tun; aber  ungewöhnlich ist auch seine so lange weitgehende Abwesenheit in (Erinnerungs-)Büchern über das  kulturelle,  intellektuelle Leben in Wien der Zwischenkriegszeit. Die wenigen Ausnahmen, wo Biographen  sehr wohl schon vor seiner Wiederentdeckung ab 1994 Morgensterns Bedeutung – jedenfalls als Zeitzeuge –  erkannt und dokumentiert haben betreffen in erster Linie David Bronsen, der für seine Arbeiten über Joseph Roth Morgenstern entdeckt hat und Adolf Frisé, der in Zusammenhang mit Robert Musil  auf Morgenstern gestoßen war.

Zu den wenigen von den vielen, die Morgenstern gekannt hatten oder mit denen er freundschaftlich verbunden war, die sich in ihren publizierten Erinnerungen an Morgenstern schon erinnern, gehören sieben Memoirenschreiber. Nur drei dieser Memoiren beziehen sich auf seine Zeit in Wien:

  • Ernst Krenek: Im Atem der Zeit. Erinnerungen an die Moderne. Hoffmann und Campe, Hamburg 1998.   Krenek erinnert sich u.a. (v.a. S.881) an seine Begegnungen mit Morgenstern im Parkhotel Hietzing und schreibt da über ihn „ [… ] er war einer der fanatisch  ritterlichen polnischen Juden, ein sehr sympathischer Mensch […]“
  • Karola Bloch: Aus meinem Leben (Pfullingen 1981). Sie erwähnt SM als ihren Trauzeugen in Wien (S.96) und (S.97) ihren Freundeskreis in Wien, wozu SM gehört
  • Ernst Erich Noth: Erinnerungen eines Deutschen (Classen 1971) erwähnt nur kurz auf S.230: "[…] Heinrich Simon vermittelte eine Einladung auf das abgelegene oberbayrische Landgut seiner Schwester, Frau Annemarie von Klenau. Hier traf ich den österreichischen Journalisten und Schriftsteller Soma Morgenstern, der mit der ältesten Klenautochter verheiratet war. Er war regelmäßiger Mitarbeiter der FZ […]"

In vier anderen Erinnerungsbüchern wird Morgenstern im Pariser Exil erwähnt:

  • Friderike Zweig: Spiegelungen des Lebens. Wien, Hans Deutsch Verlag 1964
  • Hertha Pauli: Der Riß der Zeit geht durch mein Herz. Wien, Paul Zsolnay 1970
  • Karl Frucht: Verlustanzeige. Wien, Kremayr und Scheriau 1982
  • Bil Spira: Die Legende vom Zeichner. Wien, Döcker Verlag 1997

Gershom Scholem erwähnt Morgenstern in seinen Publikationen über Walter Benjamin als dessen Freund; zB. in: G.Sch.,  Walter Benjamin und sein Engel, in: Zur Aktualität Walter Benjamins. Aus Anlaß des 80. Geburtstages von Walter Benjamin hg. von S. Unseld, Frankfurt/Main, 1972;  oder G.Sch. Walter Benjamin: Die Geschichte einer Freundschaft. Suhrkamp 1975.

 

1994 beginnt die von Ingolf Schulte herausgegebene Werkausgabe und damit die (Wieder-) Entdeckung von Morgenstern. Auf diesen Webseiten hier kann man auf der Seite „Literatur“, sortiert man die Reihenfolge nach Erscheinungsjahr, wie ab 1994 die Sekundärliteratur zu Morgenstern einen jähen Aufschwung nimmt. Insgesamt wurden über Morgenstern und sein Werk etwa 100 Artikel oder umfangreichere Arbeiten mit insgesamt über 3000 Seiten publiziert, darunter fünf Dissertationen. Graphisch lässt sich die Entwicklung so darstellen:

Die Publikation der Werkausgabe  Morgenstern hat auch viele weitere Ausgaben und Übersetzungen ausgelöst, was hier auf der Seite „Editionen“ gezeigt wird. Untenstehende Graphik soll die ungewöhnliche Publikationsgeschichte noch anschaulich machen:

 

Googles sog. Ngram Viewer zeigt den (späten) Anstieg von Erwähnungen Morgensterns in deutschsprachigen (vergoogelten) Büchern:

Wie dennoch immer noch relativ bescheiden Morgensterns Aufschwung in der Wahrnehmung ist,  kann man beim Vergleich mit der Rezeption seines Freundes Joseph Roth sehen (wiederum nur in Bezug auf Erwähnungen im deutschsprachigen vergoogelten Korpus):

 

Eine sehr lesenswerte Übersicht über die Rezeptionsgeschichte bietet Corinna Haeger in ihrer Dissertation (2011), v.a. in Hinsicht auf die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Morgenstern  (S.19-29): "Das wiederentdeckte Werk eines Vergessenen? Anmerkungen zur Rezeptionsgeschichte Soma Morgensterns nach 1945"

Trotz SMs (zunächst ja nur) englischsprachigen Publikationen ist die Rezeption in diesem Sprachraum nach wie vor bemerkenswert schwach,  wird Morgenstern  auch fast zwanzig Jahre nach seiner Wiederentdeckung im deutschen (und französischen und spanischen) Sprachaum dort kaum wahrgenommen. So erwähnt zB. Hillary Hope Herzog in dem etwa 300 Seiten starken Werk "Vienna is different. Jewish Writers in Austria from the Fin-de -Siecle to the Present" (2011) Morgenstern mit keinem Wort.